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Die Natur in Worte fassen


Zwei Schülerinnen des Humboldt-Gymnasiums erhalten Auszeichnungen für ihre Nature-Writing-Texte

Am 20. November 2019 wurden in der Humboldt-Bibliothek (Reinickendorf) zwei Schülerinnen des Humboldt-Gymnasiums für ihre Beiträge zum Schreibwettbewerb „Nature Writing - Alexander im Sinn“ ausgezeichnet. An diesem Wettbewerb hatten 32 junge Autorinnen und Autoren teilgenommen.

Yolanda Simonds errichte mit „Ameisenlöwen“ den 1. Platz und Elif Cetin mit „Die Welt nach dem Regen. Die Welt vor dem Gewitter“ den 3. Platz. Die Preisträgerinnen wurden von Frau Katrin Schulze-Berndt (Kulturstadträtin) und Frau Petra Lölsberg bekannt gegeben und gewürdigt. Herr Michael Kleeberg hatte zuvor das aus dem angelsächsischen Raum stammende und zunehmend auch in Deutschland populär werdende Genre Nature Writing kurz vorgestellt und aus seiner Übersetzung von Richard Mabeys „Die inoffizielle Natur“ („The Unofficial Countryside“ (1973)) gelesen. Nach einer Lesung der Texte der Preisträgerinnen sprach Herr Michael Kleeberg mit den Autorinnen über deren Texte und Erfahrungen beim literarischen Schreiben.

Nature Writing bedeutet, sich auf die Natur einzulassen, sie genau zu beobachten und diese Beobachtungen bedacht in Worte zu fassen. Wie Yolanda Simonds und Elif Cetin das gemacht haben, können Sie und könnt Ihr hier lesen.

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Yolanda Simonds

Ameisenlöwen

Ich bin, um ehrlich zu sein, jemand, der nicht gerade der beste Freund von Insekten und Käfern ist. Wenn ich zum Beispiel einen Schneider (eine männliche Mücke) sehe, finde ich ihn interessant und sehe ihn mir auch genauer an, aber komme ich irgendwie mit ihm in Berührung, wird er entweder einen Kilometer weit weggeschleudert oder er ist Matsch.
Besonders interessant finde ich den Ameisenlöwen, mit dem ich mich einmal bekannt gemacht habe.

Ich gehe oft mit meiner Nachbarin, die sich gut mit Tieren auskennt, ins Tegeler Fließ. Da wir in der Nähe dieses Naturschutzgebietes wohnen, kommen wir schnell dorthin.
Bei einem unserer Spaziergänge kamen wir einmal an sandigen Flächen vorbei. Ich rannte ganz aufgeregt von der einen zur anderen Stelle und sah mir die Spuren an. Überall waren kleine Abdrücke von winzigen Insekten, die dort entlanggelaufen waren. Es gab schleifende Spuren, Spuren mit großen und Spuren mit kleinen Abständen; Spuren, die man verfolgen konnte, bis sie sich im Nichts auflösten, und Spuren, die man nur einmal sah.
Immer wieder kam ich auch an kleinen Mulden vorbei. Mulden, die nach unten hin spitz zuliefen, wie als wenn man versucht, im feinen Sand ein Loch zu graben, aber der Sand an den Seiten immer wieder nach unten rutscht.

Nach einer Weile konnte ich meine Neugierde nicht stoppen, und ich fragte meine Nachbarin Silvia, was diese Mulden für Zwecke erfüllen würden. Silvia erklärte mir, dass dies Fallen seien, die von Ameisenlöwen gebaut würden, und wenn zum Beispiel eine Ameise aus Versehen zu nah an den Rand der Mulde komme, rutsche die Ameise, da die Ränder der Mulden recht steil seien und es ein so feiner Sand sei, in die Mulde und komme nicht wieder heraus. Der Ameisenlöwe, der sich unter dem Sand in der Mulde verstecke, werde dann blitzschnell aus dem Sand springen, die Ameise packen und sie unter den Sand ziehen, wo er sie dann verzehre.

Ich hatte noch nie einen Ameisenlöwen gesehen, und ich stellte ihn mir wie eine Ameise mit Löwenmähne vor. Total begeistert von der Sache blieb ich an jeder Mulde stehen und sah sie mir fünf bis zehn Minuten an, in der Hoffnung, dass ein Ameisenlöwe herauskommt. Aber ohne Erfolg. Ich versuchte sogar, ihn mit Sandkörnern, die ich in die Mulde warf, herauszulocken, falls er denkt, irgendein Krabbeltier sei in seine Falle getappt. Doch der Ameisenlöwe ließ sich nicht blicken.

Nach einer Weile verlor ich das Interesse und schaute nur noch halbherzig mit kurzem Blick in die Mulden, die ich beim Vorübergehen sah. Plötzlich entdeckte ich eine Ameise, gefährlich nah an einer Mulde vorbeilaufend. Ich hockte mich hin, um genauer sehen zu können, was als Nächstes passieren würde. Und da geschah es. Die Ameise rutschte mit einer kleinen Sandlawine den Rand hinab in die Mulde, und bevor sie noch Zeit hatte, eine Gefahr zu erkennen, sprang ein kleines Getier aus dem Sand. Ich vermutete, dass dies der Ameisenlöwe sei, auch wenn das Aussehen des kleinen Käfers überhaupt nicht meiner Vorstellung entsprach. Er hatte die Form einer Zecke und war weiß. Auf seinem leicht braun gefleckten Panzer waren kleine Stacheln zu sehen und am Kopf waren ein paar dicke Fühler. Der Ameisenlöwe packte die Ameise und zog sie mit sich nach unten in die Tiefe. Für ein paar Sekunden starrte ich auf den Fleck und musste erst einmal begreifen, was ich gerade gesehen hatte.
Dann stand ich still auf und lief weiter. Den Rest des Spaziergangs sagte ich kein Wort.



Elif Cetin

Die Welt nach dem Regen. Die Welt vor dem Gewitter

Die Luft riecht ganz anders.
Nach Erde und Blumen, jede Blüte, jede noch so kleine Knospe scheint zum Leben erweckt worden zu sein. Es duftet nach den Wildrosen im Garten, dem kleinen Lavendelstrauch daneben, ich bilde mir gar ein, jeden einzelnen Grashalm wahrzunehmen. Jeder Atemzug bringt eine Welle neuer Gerüche, eine Überflutung meiner Sinne. Die Luft scheint aufgeladen mit den Aromen des Spätsommers, einer Mischung aus Magnolien und Lilien.

Der Niederschlag trommelt leise auf das Dach. Es plätschert. Beruhigend. Der Rhythmus des Regens ist schnell, aus dem Takt, wenn die Tropfen am Fenster aufkommen und dann langsam an ihm hinunterrinnen. Für ein Weile wende ich mich dem Spiel der Natur zu und beobachte, wie die Tropfen einander überholen und dünne Spuren am Glas hinterlassen.

Hinter dem Fenster erstreckt sich ein dichtes Wolkengeflecht. Die Wolken sind grau, vereinzelt auch lila gesprenkelt, sie bilden ein Dach über der Natur. Einige wenige Lichtstrahlen kämpfen sich durch den Wolkenteppich. Darunter bin ich.

Das Licht taucht die Welt langsam in einen unnatürlichen Gelbton, jede noch so kleine Veränderung kommt hundertfach verstärkt bei mir an. Es umhüllt die rot beziegelten Dächer, schmiegt sich selbst durch die belaubten Zweige. Das Licht bepinselt die Blüten, die kleinen Wildblumen, jedes Fenster. Goldene Silhouetten leuchten mir entgegen. Sie laden ein.

Ich bin hinausgetreten. Mit nacktem Fuß stehe ich nun im Garten. Unter meinen Fußsohlen spüre ich winzige Kieselsteine, die mit ihren scharfen Kanten einschneiden. Die nassen Steine glitzern im Licht. Ein lieblicher Anblick, während sich ihre spitzen Ecken immer tiefer in meine Haut bohren. Ich laufe ein Stück weiter, grabe meine Zehen in den weichen Boden. Ich spüre die feuchte Erde, die Kälte, die von ihr ausgeht.

Ich bin alleine draußen. Keine Kinder rennen in den Gärten herum, niemand ist zu hören.
Zweisamkeit mit der Natur - sie ummantelt mich wie eine schützende Decke in all ihren Facetten. Die verrennenden Tropfen bilden ein flüchtiges Netz auf meiner Haut. Eine kühle Brise umstreicht mich. Die Landschaft umfasst mich, zieht mich in ihre Tiefen. Immer ferner fühle ich mich von meiner Umgebung; als würde sie mit jedem Tropfen ungreifbarer.

Wie in einem Rausch, benebelt durch die vielen Eindrücke, schaue ich mich um.
Aus einigen Schornsteinen qualmt es. Graue Rauchzeichen ziehen in den Himmel, ein Abbild, ein einziges Indiz dafür, dass außer mir andere Menschen hier sind.
Sonst bin ich allein.

Ich verweile weiter im Regen. Meine Kleidung ist längst durchnässt, das dünne Oberteil klebt an meinem Körper. Es ist derart kurios, derart verwunderlich, sich dem Naturphänomen hinzugeben, anstatt unter ein schützendes Dach zu flüchten - ich lache leicht, denn es kommt mir absurd vor.

Alles fühlt sich ein wenig unwirklich an, als wäre ich in einem verregneten Sommertraum inmitten der Dahlien gefangen. Ich fühle mich versetzt in einen Zustand der Melancholie, der Neugier, die Natur erbebt vor meinen Augen. Die Tropfen und die Gerüche, sie vereinen sich zu einem Gefühl.
Die Natur nimmt mich auf, sie gewährt mir Zugang in ihre Weiten, solange ich den Regen auf der Haut und die Erde unter mir spüre.
Es scheint wie die Reingeburt der Natur.

Wie lange habe ich mich wohl nicht mehr allein in den Regen gestellt, nicht für dieses oder jenes, einfach nur so?
Wann ist das melodische Zwitschern der Spatzen und Meisen zu einem altbekannten Piepsen, einer störenden Unterbrechung des Alltags geworden?
Die kindliche Neugier, die bedingungslose Bewunderung, am meisten die Unbeschwertheit habe ich irgendwann abgelegt, mich den Farben und Formen verschlossen. Ich habe aufgehört zu genießen.

Doch wer könnte der Natur in ihrer jetzigen Form schon widerstehen?

Der Sog der Natur ist so stark, es müsste doch jeden nach draußen ziehen, mich jedenfalls fesselt sie in ihrer Reinheit, sie zwingt mich zu bleiben. Es ist kein fairer Kampf gegen ihre Anziehung, aber ich kapituliere vor ihren Reizen nur allzu gern.

Sicherlich müssen doch auch andere es spüren. Sie müssen ebenfalls gen Himmel blicken und diesen Augenblick ausschöpfen.
Wieviele Menschen der sanfte Niederschlag wohl streift, bevor er in den Boden sickert? Wieviele Hände und Gesichter die runden Diamanten wohl schmücken, das Licht ein letztes Mal reflektieren, bevor sie sich der Natur hingeben, wieder ein Teil des ewigen Kreislaufes werden? Jetzt perlen sie an mir ab, verlaufen wie Träume im Alltag.

Die Tropfen rieseln unentwegt herunter.
Sie fallen und fallen;
stocken in dichten Baumkronen und fallen weiter.
Irgendwann versickern sie.
Sie verbinden die riesigen, grauen Wolken über meinem Kopf, den Dächern der Stadt, mit dem schmierigen Schlamm zu meinen Füßen.
Ich bin mittendrin.

Die Luft dazwischen summt.
Sie ist elektrisch aufgeladen mit Emotionen. Sie ist belebt durch das sehnliche Verlangen nach Einklang mit der Natur, das Bedürfnis nach Reinheit und den Wunsch nach kindlicher Neugier.

Sie riecht nach einem Teil von mir, den ich verdrängt zu haben schien, sie riecht nach der Natur draußen, der Natur in mir, sie riecht vertraut und heimisch und sonderbar.

Die Luft riecht ganz anders.